Wie Dave Snowden das Cynefin™-Rahmenwerk erklärt und welche Erkenntnis ich daraus gezogen habe
In den meisten Scrum Trainings erkläre ich das Einsatzgebiet von Scrum mit dem Cynefin™-Rahmenwerk wie folgt:
Ich präsentiere eine Folie, auf der fünf Bereiche mit folgenden Beschriftungen abgebildet sind: klar, kompliziert, komplex, chaotisch und bewusst, aber verwirrt. Dabei sind die Bereiche durch einen Rahmen voneinander abgegrenzt.
Dann stelle ich die einzelnen Bereiche im Detail vor. Eine klare Situation zeichnet sich etwa dadurch aus, dass Resultate wiederholbar und nicht zufällig entstehen. In einer komplizierten Situation ist dieser Zusammenhang nicht mehr für jeden erkennbar.
Nun gebe ich den Teilnehmern Beispielsituationen (Auto reparieren, IKEA-Möbel aufbauen, Kindergeburtstag organisieren, Produkt-Launch) und bitte sie, diese den Bereichen zuzuordnen.
Weiter erkläre ich Handlungsoptionen für jeden der Bereiche. In klaren Situationen kann jeder sehen, welche Aktivitäten welche Resultate produzieren, und niemand hinterfragt dies. Die Schritte, wie Entscheidungen getroffen werden sollten, lauten deshalb: beobachten, kategorisieren, antworten. In komplizierten Situationen ist dies nur noch für Experten aus diesem Bereich möglich. Damit die anderen den Zusammenhang zwischen Aktivitäten und Resultaten sehen können, muss ein Experte es ihnen erklären oder sie müssen die Situation selbst analysieren. Die Schritte, wie Nicht-Experten Entscheidungen treffen sollten, lauten deshalb: beobachten, analysieren, antworten.
Jetzt frage ich die Teilnehmer, in welchem Bereich Scrum eingesetzt werden sollte. Die meisten antworten: „In einer komplexen Situation.“ Das ist zwar korrekt, aber nicht im gesamten komplexen Bereich sollte Scrum eingesetzt werden, sondern nur an der Grenze zum Komplizierten, innerhalb der Liminalitätsgrenze. Beispiele für den Übergang sind eine Hochzeit oder ein Bewerbungsgespräch.
Vergangenes Jahr habe ich das „Agile Rewildering“-Training bei Dave Snowden besucht. Er erklärte das Cynefin™-Rahmenwerk folgendermaßen:
Als Teilnehmer erhielten wir Beispielsituationen und wurden gebeten, diese Situationen anzuordnen.
Nachdem wir alle Situationen angeordnet hatten, bat er uns, einen Rahmen um ähnliche Situationen zu ziehen. Es gab Situationen, die ähnlich zueinander waren, aber auch Situationen, bei denen wir als Teilnehmer unsicher oder verwirrt waren und nicht wussten, wozu sie passten.
Im letzten Schritt sollten wir beschreiben, was die eingerahmten Bereiche auszeichnet. Zum Beispiel zeichnet sich eine komplexe Situation durch viele Unbekannte aus. Wir erkennen dies daran, dass Experten nicht mehr vertraut werden kann. In komplexen Situationen treffen auch Experten Annahmen, die sich als richtig oder falsch entpuppen können! Ein Beispiel hierfür ist die medizinische Behandlung durch Ärzte. Chaotische Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass die Situation instabil ist und zu entgleisen droht. Beispiele dafür sind Naturkatastrophen, bei denen Helfer gegen die Zeit kämpfen, um noch lebende Menschen zu bergen.
Anschließend stellte uns Dave Snowden die bekannten Entscheidungsmodelle aus dem Cynefin™-Rahmenwerk vor. In komplexen Situationen sollten wir entscheiden, indem wir ausprobieren, beobachten und dann erste Antworten geben. Da selbst Experten keine eindeutigen Antworten mehr geben können, müssen wir unterschiedliche Optionen ausprobieren, bevor wir eine Entscheidung treffen können. In chaotischen Situationen ist für Ausprobieren keine Zeit. Es muss sofort gehandelt werden. Deshalb lautet das Entscheidungsmodell hier: agieren, beobachten und antworten.
Zum Schluss überlegten wir uns Beispiele, die diese unterschiedlichen Entscheidungsmodelle umsetzen. Eine Triage in chaotischen Situationen. Oder Timeboxing und die Durchführung paralleler Experimente in komplexen Situationen. Scrum in komplexen Situationen an der Grenze zum Komplizierten. Eine Lösung iterieren oder Projektmanagement in komplizierten Situationen. Checklisten und Regeln in klaren Situationen.
Was ist der Unterschied zwischen den beiden Erklärungen?
Um den Unterschied zu erkennen, musst du diese Frage beantworten:
Was wurde zuerst eingeführt, die Daten (Beispielsituationen) oder der Rahmen (Grenze um die Situationen)?
Im ersten Vorgehen geht der Rahmen den Daten voraus und die Daten werden den Kategorien des Rahmens zugewiesen. Es handelt sich also um Kategorisierung.
Im zweiten Vorgehen gehen die Daten dem Rahmen voraus und die Grenzen des Rahmens ergeben sich aus den Daten. Es handelt sich um Sinnschaffung. Aus den Daten ergibt sich beim Betrachten ein Sinn.
Nachdem ich den Unterschied bemerkt hatte, habe ich Dave Snowden darauf angesprochen. Er versicherte mir, dass es legitim sei, das Cynefin™-Rahmenwerk in beiden Varianten zu erklären. Jede Variante hat Vor- und Nachteile, und damit die Varianten unterschieden werden können, bezeichnet er die Zweite auch als kontextualisiertes Cynefin™-Rahmenwerk.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm da voll zustimmen kann.
In den vergangenen Wochen habe ich mehrere Workshops geleitet, in denen ich das kontextualisierte Cynefin™-Rahmenwerk verwendet habe, um über Komplexität und situative Entscheidungsfindung zu sprechen.
Dabei habe ich Folgendes beobachtet:
Die Teilnehmer machen sich mehr Gedanken über den Bereich „bewusst, aber verwirrt“, da sie sich darin bereits in der Übung wiederfinden.
Indem die Daten den Rahmen bestimmen, ergeben sich häufig mehrere oder unterschiedliche Bereiche. (Dies hängt auch stark vom Vorwissen der Teilnehmer ab. Kennen die Teilnehmer das Cynefin™-Rahmenwerk bereits, hat dies einen Einfluss auf die Anzahl der Bereiche.) Entstehen unterschiedliche Bereiche, schafft dies Raum für „emergente“ Entscheidungsmodelle.
Die Benennung der Entscheidungsmodelle und Handlungsempfehlungen wird dadurch spezifischer auf den Unternehmenskontext abgestimmt.
Durch die Verwendung des kontextualisierten Cynefin™-Rahmenwerks stellten die Teilnehmer erstmalig auch die Frage, wie sie die Situation jetzt konkret managen könnten. Also: Wie können komplexe Situationen in komplizierte überführt werden und umgekehrt? Und um das Managen von Komplexität durch Sinnschaffung geht es doch im Kern bei Scrum!
Deshalb werde ich in Zukunft nur noch das kontextualisierte Cynefin™-Rahmenwerk verwenden.
Welche Form des Cynefin™-Rahmenwerks ist für dich hilfreicher und warum bevorzugst du sie?