„Wie kann ich eine Retrospektive online durchführen?“, lautet eine Frage, die ich in letzter Zeit oft gehört habe.
Die Fragenden suchen nach einem einfachen Format, welches sich online bewährt hat. Nach jahrelangen Erfahrungen mit Online-, Offline- und hybriden Retrospektiven lautet der wichtigste Grundsatz für erfolgreiche Retrospektiven im Onlineformat:
Wir arbeiten als Team zusammen, aber jeder denkt für sich!
Damit beugen wir Gruppendenken vor und beziehen gleichzeitig jeden Teilnehmer mit ein. Wenn ich dir gleich ein 6-schrittiges Workshop-Format für Online-Retrospektiven vorstelle, behalte diesen Grundsatz immer im Hinterkopf.
Als Metapher für diese Retrospektive hat sich ein Segelschiff bewährt.
Also lass uns in See stechen:
Schritt 1: Positives sammeln
Menschen lieben es, über Probleme zu reden.
Das ergibt Sinn.
Evolutionsbiologisch sind wir darauf getrimmt, Problemen einen höheren Stellenwert in unserem Leben einzuräumen als Erfolgen. Probleme resultieren aus Fehlern. Und Fehler zu machen wird deshalb mit Gefahr gleichgesetzt. Wir haben als Spezies überlebt, da wir aus Fehlern anderer schnell lernen konnten, um nicht den gleichen gefährlichen Problemen zu begegnen und womöglich verletzt zu werden. Probleme haben sofort unsere Aufmerksamkeit. Wenn du mir nicht glaubst, brauchst du nur einen Blick in die aktuellen Nachrichten zu werfen. Wie oft berichten die Nachrichten über Katastrophen und Krisen?
Das Problem mit den Problemen ist, dass sich Menschen darin gerne verlieren.
Dies führt schnell zu einer negativen Grundstimmung. „Das hat alles keinen Sinn mehr“, ist ein schlechter Startpunkt für eine Retrospektive. Deshalb mein Tipp: Starte jede Retrospektive mit dem Sammeln von Positivem.
Was lief im letzten Sprint super?
Auf welche Leistung des Teams bist du besonders stolz?
Welchen Kollegen feierst du besonders, da er dir geholfen hat?
Welches Feedback von Kunden und Nutzern hat dich beflügelt?
Zusammengefasst lautet der erste Schritt:
„Wäre unser Team eine Segelcrew, was hat uns Aufwind gegeben?“
Gib jedem Teammitglied etwa 3 Minuten Zeit, seine Antworten für sich auf einer Notiz zu formulieren. Dann lade die Teilnehmer ein, ihre Notiz vorzustellen und den Segeln des Schiffs zuzuordnen. Lasse dazu jeden Teilnehmer nacheinander zu Wort kommen, aber unterbinde etwaige Diskussionen. Animiere die Teammitglieder, wenn sie etwas beisteuern wollen, die Erfolge mit einem virtuellen Applaus zu feiern.
Schritt 2: Negatives sammeln
Mit dieser feierlichen Stimmung widmen wir uns jetzt möglichen Verbesserungen.
Genau wie das Lösen von Problemen unser Überleben als Menschen sichert, hilft es uns, uns als Team zu verbessern. Deshalb solltest du im zweiten Schritt deinem Team helfen, Probleme zu identifizieren.
Bitte jedes Teammitglied, so viele Probleme, Fehler, Frustrationen und Unstimmigkeiten wie möglich zu sammeln. Es sollte sich dabei auf den letzten Sprint konzentrieren und die Notizen so formulieren, dass andere sie ohne Nachfragen verstehen. Dafür hat jeder 4 Minuten Zeit und jeder Punkt muss dabei als separate Notiz formuliert werden.
Die Einladung an das Team lautet:
„Was hat uns diesen Sprint nach unten gezogen?“
Wenn die 4 Minuten abgelaufen sind, bitte die Teilnehmer, die Notizen unterhalb des Schiffs zu platzieren. Der Anker des Schiffs symbolisiert dabei, was das Team runterzieht. (Hier kannst du ruhig kreativ sein. Ich habe statt eines Ankers einen Totenkopf genutzt.) Die Notizen werden nicht vorgestellt, sondern sprechen für sich. Gib dem Team 4 Minuten Zeit, alle Notizen zu lesen.
Wie beim ersten Schritt erfährst du hier das Prinzip in Aktion: „Wir arbeiten als Team zusammen, aber jeder denkt für sich!“
Konkret bedeutet dies, dass du Rückfragen und Gespräche unterbindest. Das ist zu Beginn sehr ungewohnt für die Teilnehmer. Erkläre ihnen deshalb das obige Prinzip vor dem Termin ausführlich. Wenn du diese Retrospektive einige Male gemacht hast, gewöhnen sich die Teammitglieder an diese neue Art, zu arbeiten.
Schritt 3: Die aktuelle Herausforderung formulieren
Das Ziel des 3. Schritts ist es, die wichtigste Herausforderung zu finden, an der das ganze Team arbeiten sollte.
In der Sprache der Metapher lautet dieser Schritt:
„Wohin sollten wir unser Schiff steuern?“
Wir gehen dabei wie folgt vor:
Jedes Teammitglied bekommt drei Stimmen und votet für die Probleme, die es am relevantesten findet (Dot-Voting). Mehrfache Wahlen und das Wählen eigener Probleme sind erlaubt. Das Voting findet wieder ohne Diskussion statt.
Nachdem jeder seine Stimme vergeben hat, ordnest du die Probleme nach der Anzahl der meisten Votes in einer aufsteigenden Liste.
Haben Probleme gleich viele Stimmen, erhalten sie die gleiche Priorität in der Liste. Gibt es mehrere erste Elemente in der Liste, dann stimmt über die Reihenfolge dieser Elemente noch einmal separat ab. Ziel ist es, dass am Ende nur ein erstes Element in der Liste steht.
Nun hilf der Gruppe, aus den höchstbewerteten Problemen eine Herausforderung zu formulieren.
Verwende zur Formulierung der Herausforderung folgendes Format aus dem Design Thinking:
„Wie könnten wir …“
Hinter diesem Frageformat verbirgt sich Folgendes:
„Wie“ hilft, eine konkrete Lösung zu finden.
„Könnten“ hilft, mehrere Lösungen in Erwägung zu ziehen.
„Wir“ hilft, dass das Team zusammenarbeitet.
Als Facilitator der Retrospektive solltest du einen ersten Vorschlag der aktuellen Herausforderung formulieren und dann die Gruppe einladen, deinen Vorschlag zu verbessern. Das spart nicht nur Zeit, sondern die Teammitglieder erleben das „Wie könnten wir …“-Format gleich in Aktion.
In diesem Workshop-Format ist dies der erste Moment, in dem eine Diskussion ausdrücklich gewünscht ist!
Beschließe die Diskussion mit einem kurzen „Daumen-hoch-Daumen-runter“, um zu testen, ob jeder die Herausforderung verstanden hat. Wenn alle Daumen nach oben zeigen, kannst du zum nächsten Schritt übergehen. Dieser 3. Schritt dauert in etwa 10 bis 12 Minuten.
Ein Problem in Form einer Frage als Herausforderung zu formulieren, ist ein wichtiger Schritt für den weiteren Verlauf der Retrospektive. Diese Frage hilft dem Team, eine Vielzahl von Antworten zu finden.
Es geht erst mal nur um Lösungsmöglichkeiten, nicht um DIE Lösung!
Schritt 4: Lösungsoptionen generieren
Im letzten Schritt war eine kurze Diskussion ausdrücklich erlaubt, nun halten wir uns wieder an das Prinzip:
„Wir arbeiten als Team zusammen, aber jeder denkt für sich!“
Das bedeutet, du solltest nun jeden im Team bitten, so viele Lösungsideen zu erzeugen, wie ihm in 5 Minuten möglich ist. Lade die Teilnehmer dazu wie folgt ein:
„Wenn kein Lösungsansatz als verrückt gilt, welche kreativen Ideen hast du, um die Herausforderung anzugehen?“
Wenn die Zeit abgelaufen ist, bittest du das Team, die Lösungen neben dem Steuerrad zu platzieren. Im Anschluss lädst du jeden Teilnehmer ein, die Vorschläge zu lesen. Dieser Schritt geschieht in Stille.
Schritt 5: Lösungsoptionen priorisieren
Wenn dein Team im vierten Schritt all seine Kreativität eingebracht hat, stehst du jetzt vor folgendem Problem:
Es gibt mehr Lösungen als Zeit, diese umzusetzen.
Die Lösung? Abermals priorisieren. Für die Arbeit mit Teams an schwierigen Problemen gibt es keine perfekten Lösungen, egal wie lange dein Team darüber nachdenkt. Es gibt immer noch Raum, um die Lösung zu verbessern. Deshalb benötigen wir eine Priorisierungstechnik, die uns hilft, die positiven Auswirkungen einer Lösungsidee mit dem Aufwand für die Umsetzung der Lösung in Verbindung zu setzen.
Hierfür hilft uns eine Variante der bekannten Eisenhower-Matrix.
Verwende sie wie folgt:
Als Erstes bittest du die Teilnehmer, wie in Schritt 3, mit Dot-Voting die Lösungsoptionen mit der wahrscheinlich positivsten Auswirkung auf die Herausforderung zu priorisieren. Gib dazu jedem Teammitglied wieder 3 Punkte und bitte sie, die Punkte für den ihrer Meinung nach besten Lösungsansatz zu vergeben. Das Ergebnis ist eine geordnete Liste von Lösungsideen. Wir nennen sie die Liste der Lösungsoptionen. Alle Optionen, für die nicht gevotet wurde, sind nicht mehr Teil der Liste. Sie bilden die horizontale Achse einer Matrix. Rechts auf der Achse stehen die Lösungsideen mit dem besten Wahlergebnis.
Auf der vertikalen Achse wird der Aufwand für die Umsetzung der Lösungsidee angegeben. Wähle hierfür das erste Element der Lösungsoptionsliste und bitte die Teammitglieder, dir mit den Händen zu zeigen, wo du es platzieren sollst. Eine Hand nach oben bedeutet, die Lösungsoption sollte weiter oben auf der Matrix platziert werden.
Stelle dazu die Frage:
„Wenn wir diese Option umsetzen, wie hoch wäre der Aufwand dafür?“
Diesen Schritt wiederholst du für alle Optionen auf der Liste. Dies sollte etwa 10 Minuten dauern.
Befinden sich nach der Platzierung der Lösungsoption zwei Elemente auf der gleichen Position, solltest du eine kurze Diskussion zulassen. Zieht sich die Diskussion zu lange hin, dann erinnere die Teammitglieder daran, dass es bei der Positionierung nicht darum geht, die genaue Position auf der Matrix zu bestimmen, sondern das Verhältnis zu den anderen Lösungsoptionen anzuzeigen.
Am Ende von Schritt 5 hat dein Team eine Lösungsidee, die den größten „Return on Investment“ verspricht. Diese Verbesserung sollte im nächsten Sprint angegangen werden.
Schritt 6: Lösungsoption und Herausforderung zusammenfassen
Füge die Lösungsidee zur Herausforderung hinzu.
Im Sprint Planning des nächsten Sprints kann dieses Element vom Team zum Sprint Backlog hinzugefügt werden und es können Aktivitäten geplant werden, die zur Umsetzung der Idee nötig sind.
Das Team sollte hier bewusst nur an der Lösungsidee arbeiten, die den geringsten Aufwand erfordert. Wir sollten nie vergessen, dass in der agilen Produktentwicklung Dinge entdeckt werden, während wir daran arbeiten, nicht während wir analysieren oder planen!
Viele, denen ich dieses Workshop-Format bereits gezeigt habe, berichteten mir im Anschluss, dass sie damit eine Retrospektive in weniger als einer Stunde durchführen konnten. Und das Besondere: Die Teilnehmer waren die ganze Stunde aktiv dabei!
Wenn du vorhast, dieses Workshop-Format ebenfalls zu testen, oder noch Fragen hast, dann schreibe gerne in die Kommentare.