Im Jahr 2017 spielte ich mit dem Gedanken, meinen Job zu wechseln. Ich war bereit für eine Veränderung.
Zu einem Kennenlerngespräch lud mich die Hood Group zu ihrer hauseigenen Konferenz in München ein. Den Vertrag hatte ich bereits in der Tasche. Das Angebot war lukrativ. Doch die vielen Reisen und die große Verantwortung ließen mich vor der Unterschrift noch zögern. Die Konferenz endete mit einer beeindruckenden Keynote. Jorgen Furuhjelm stellte vor, wie Saab das Flugzeug „Gripen“ mittels Scrum effizienter und kostengünstiger als die Konkurrenz entwickelte.
Im Gedächtnis blieb mir jedoch die Heimfahrt.
Auf der nahm ich Julia mit. Sie arbeitete bereits für die Hood Group und da wir beide aus Regensburg kommen, lag es nahe, sie mitzunehmen. Es war das erste Mal, dass ich einen Jedi getroffen hatte. Also jemanden mit einer ganz besonderen Gabe: Sie konnte wirklich zuhören. Wenn dir jemand wirklich zuhört, hinterlässt das ein Gefühl, gesehen zu werden. Du spürst, dass sich der Zuhörer wirklich für dich und deine Situation interessiert. Du fühlst dich so geborgen, dass du viel eher bereit bist, über Dinge zu sprechen, die du mit anderen nicht teilen würdest.
Hier ist die unangenehme Wahrheit:
Häufiger als du denkst, hört dir dein Gegenüber nicht wirklich zu.
Wenn du sprichst, dann hören sie dir nicht wirklich zu. Was sie hören, sind ihre eigenen Gedanken. Die Stimme in ihrem Kopf, die interpretiert, was du sagst, die sich die Worte zurechtlegt, die sie erwidern wollen, sobald du aufhörst zu sprechen. Noch schlimmer: Manche „Zuhörer“ warten nicht einmal, bis du eine Gesprächspause einlegst. Sie überrollen dich einfach mit ihren Gedanken, wenn ihr innerer Monolog so laut wird, dass sie ihn nicht mehr ertragen können.
Das verstehen wir leider häufig unter Zuhören.
Echtes Zuhören ist eine Seltenheit. Wenn jemand zuhört, wie Julia es getan hat, dann brauchen wir dafür einen neuen Begriff. Julias Zuhören glich fast einer Meditation. Es schien bei ihr keinen inneren Monolog zu geben, der um ihre Aufmerksamkeit rang. Sie hatte sich ganz auf mich und meine Situation eingelassen. Sie nahm wahr, was ich sagte, wie ich es sagte und vor allem auch, was ich nicht sagte. Julias Art, auch das Nichtgesagte zu hören, erinnert mich an das berühmten Mozartzitats: „Die Musik liegt nicht in den Noten, sondern in der Stille dazwischen.“
Wir bezeichnen dieses Zuhören als aktives Zuhören.
Es ist ein Geschenk, wenn du Menschen in deinem Leben hast, die aktiv zuhören. Es bringt Tiefe in deine Beziehungen, jemanden in deiner Nähe zu haben, der dich versteht. In Gegenwart solcher Menschen fühlst du dich akzeptiert, so wie du bist. Es bereichert dein Leben und eröffnet dir neue Möglichkeiten.
Das Gespräch mit Julia hat mir geholfen, meine Zweifel aus dem Weg zu räumen und die Möglichkeit einen neuen Job zu ergreifen.
Welche Bedeutung hat aktives Zuhören für Scrum Master?
Für Scrum Master ist aktives Zuhören allerdings die wertvollste Fähigkeit, die sie beherrschen können – denn es ermöglicht den Menschen in ihrem Team, sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen, sich zu öffnen und ganz sie selbst zu sein. Dadurch schafft es einen Raum, dass Menschen Grenzen überwinden und sich weiterentwickeln.
Darin besteht der Wert, den ein Scrum Master als Coach dem Team zu bieten hat.
Ist aktives Zuhören nur für Jedi möglich?
Da ich an Naturwissenschaft glaube, fiel es mir schwer, Julias Fertigkeit des Zuhörens als Jedi-Fähigkeit abzutun.
Deshalb machte ich mich auf den Weg herauszufinden, wie diese Fähigkeit beherrscht werden kann und wie auch ich sie erlernen kann. Meine Suche begann mit dem Besuch verschiedener Coachingkurse. Am Ende hatte ich eine Liste von Ratschlägen zusammen, die ich umsetzen wollte, um aktiver zuzuhören:
Bleibe bei Pausen ruhig.
Paraphrasiere die gehörten Aussagen.
Bestätige mit Nicken.
Versuche, die Aussagen nicht zu interpretieren.
Stelle Fragen.
Fasse das Ende zusammen.
Bestätige, dass du zuhörst.
Sei geduldig, bevor du eine Rückmeldung gibst.
Allerdings musste ich feststellen, dass ich nie dieses Gefühl bei meinem Gegenüber erzeugen konnte, welches Julia damals bei mir erzeugt hatte. Beim Zuhören ratterte es immer in meinem Kopf: „Denke daran, das Gesagte abnicken. Vergiss nichts, sonst kannst du es nicht zusammenfassen oder paraphrasieren. Simon, es wird Zeit, eine kluge Frage zu stellen!“ Es fühlte sich mechanisch an und kostete viel Kraft, die ich leider nicht so häufig aufbringen konnte, wie ich es gewollt hätte.
Deshalb machte ich mich weiter auf die Suche und landete in einer zweijährigen Ausbildung in Gewaltfreier Kommunikation. Dort fand ich zum ersten Mal eine für mich stimmige Beschreibung vom aktiven Zuhören:
Du hörst aktiv zu, wenn du zuhörst, um zu verstehen, und nicht, um zu urteilen. Wenn es nicht darum geht, zu bewerten, ob etwas richtig, falsch, gut oder schlecht ist. Es bedeutet auch, eine aufmerksame Körpersprache zu verwenden und deinem Gegenüber in die Augen zu schauen, während er spricht. Nutze den Blickkontakt, um zu bestätigen, dass du die Person hörst und um zu zeigen, dass du auch bei Stille bei ihr bist.
Für mich bedeutet das:
Ich höre aktiv zu, wenn ich nicht bewerte, nicht interpretiere, nicht zusammenfasse und nicht paraphrasiere, sondern einfach nur da bin. Ich bin präsent.
Sechs Jahre später würde ich behaupten, dass ich Julias Jedi-Fähigkeit entschlüsselt habe. Ich habe sie mir zu eigen gemacht. Wahrscheinlich nicht auf dem gleichen Niveau wie Julia, aber zumindest so weit, dass ich mein Wissen weitergeben kann.
Wie kannst du aktives Zuhören in deine Arbeit als Scrum Master integrieren?
Eine Übung, wie du mit aktivem Zuhören beginnen kannst, habe ich erst vor einigen Monaten entdeckt.
Sie ist so einfach, dass es mir schon peinlich ist, dass ich Jahre gebraucht habe, sie zu finden. Ich verwende sie seither im „Professional Scrum Master 2“-Training. Dort machen wir am ersten Tag des Trainings immer eine Übung. Ziel ist es, dass sich die Teilnehmer erarbeiten, was für sie ein erfolgreiches Team ausmacht. Dazu sitzen sie sich gegenüber. Sie sitzen Knie an Knie und erzählen sich eine Erfolgsgeschichte ihres Teams. Die eine Person erzählt, die andere hört zu. Als ich diese Übung die letzten Male mit „Höre der Geschichte deines Gegenübers aufmerksam zu, du musst sie danach noch mal Wort für Wort erzählen“ eingeleitet habe, ist etwas passiert:
Die Zuhörer haben sich auf ganz natürliche Weise noch vorne gebeut, den Augenkontakt gesucht und in der Stille die Musik gehört. Die Rückmeldung der Teilnehmer, wie sich die Übung angefühlt hat, entsprach dem Gefühl, das ich damals im Auto bei der Fahrt zurück nach Regensburg hatte. Die Aufforderung, einfach nur so zuzuhören, dass die Geschichte wiedererzählt werden kann, scheint zum aktiven Zuhören anzuregen. Der Zusatz „Wort für Wort“ scheint zu bewirken, dass unsere Gedanken schweigen. Kein Gedanke wird an das Zusammenfassen oder Paraphrasieren verschwendet.
Einfach nur zuhören und dadurch präsent sein.
Willst du aktives Zuhören lernen, dann beginne damit, dir vor der Unterhaltung zu sagen: „Ich höre jetzt nur zu! Und zwar so, dass ich die Geschichte Wort für Wort wiedergeben könnte“. Es geht nicht um den Satz an sich, sondern um die Erlaubnis, die du dir damit gibst, einfach zuzuhören. Lasse dich darauf ein. Beschränke dich nur aufs Zuhören. Du musst nicht bewerten, ob das Gesagte richtig oder falsch ist. Du musst nicht die Uhr im Hinterkopf behalten, damit das Gespräch im zeitlichen Rahmen bleibt. Du musst nicht dafür Sorge tragen, dass das Gesprochene auch zur Agenda des Meetings passt.
Du hörst einfach nur (aktiv) zu.
Aktives Zuhören wird fälschlicherweise als Soft-Skill bezeichnet
Ich bin überzeugt, dass aktives Zuhören die wichtigste Fähigkeit ist, die Scrum Master lernen müssen, da sie den Raum für Veränderung öffnet.
Aktives Zuhören wird nicht in der Schule gelehrt. Es handelt sich dabei auch nicht um eine „handwerkliche Fähigkeit“ von Scrum Mastern, wie etwa einen Burn-down-Chart zu interpretieren oder Entwicklern den Unterschied zwischen absoluter und relativer Schätzung zu erklären. Vielmehr geht es hierbei um eine Fähigkeit im Bereich der sozialen Interaktion, über die man kein Zertifikat vorlegen kann. Solche Fähigkeiten werden gemeinhin als „Soft-Skills“ bezeichnet. Das ist jedoch falsch. Die letzten sechs Jahre waren alles andere als „weich“. Sie waren geprägt von Irrwegen, Rückschlägen und Selbstzweifeln.
Deshalb ist aktives Zuhören kein Soft-Skill, sondern ein Hard-Skill für Scrum Master!