Liebe Agilisten: Wie lautet die eine Frage, der ihr euch täglich stellen solltet? (Was ihr verbessern könnt, ist es nicht.)
9 von 10 Agilisten verbringen ihre Zeit damit, Dinge zu verbessern.
Aber was bedeutet „besser“ eigentlich?
Ist es besser, wenn weitere Prozesse zur Qualitätssicherung eingeführt werden?
Ist es besser, wenn weitere Funktionen zum Produkt hinzugefügt werden?
Ist es besser, wenn wir stets neue Methoden in den Ablauf der Retrospektive einfügen?
Ist es besser, wenn wir noch ein weiteres Chat-Tool einführen, damit das Team besser kommunizieren kann?
An welchem Punkt ist „besser“ dann gut genug?
Ich nehme dir die Antwort vorweg: Wenn „besser“ „mehr“ bedeutet, dann niemals.
Mehr Prozesse, mehr Features, mehr Methoden und mehr Tools sind keine Garantie für Agilität.
Dinge zu vereinfachen, ist es hingegen!
Nur Einfachheit reduziert die Komplexität. Je komplexer etwas ist, desto mehr Abhängigkeiten gibt es zwischen seinen Teilen. Wollen wir einen Teil verändern, dann müssen wir alles verändern. Dies verlangsamt unsere Arbeit und ist somit das Gegenteil von Agilität.
Deshalb sollten wir uns als Agilisten tagtäglich nur die Frage stellen:
Was kann ich heute tun, um die Dinge zu vereinfachen?
Im Folgenden findest du 4 Fragen. Sie helfen dir, zu hinterfragen, wie du Dinge vereinfachen kannst.
Frage 1: Womit sollte unser Team aufhören, damit wir effektiver arbeiten?
2019 arbeitete ich in einem Scrum Team, welches eine Anwendung mit unterschiedlichen Clients und mehreren Tools entwickelte. Das Team hatte ein Qualitätsproblem! Die unterschiedlichen Teile der Anwendung waren alle auf einem unterschiedlichen Stand, was die Testautomatisierung betraf. Ein Client war durch Unit-, Contract-, Regression- und Last-Tests abgesichert. Aber das Hilfstool wurde nach dem Deployment von Hand getestet.
Die Frage, welche dem Team am meisten in der Sprint Retrospektive half, lautete:
Was sollten wir nicht mehr tun?
Sie führte zur Diskussion, wie einfach unser Leben wäre, wenn alle Testprozesse automatisiert wären.
Frage 2: Wie kann ich die Zusammenarbeit vereinfachen?
Solch ein Daily Scrum kann dir immer wieder begegnen:
Die Diskussion im Daily Scrum dauert an. Anna und die anderen Entwickler diskutieren bereits seit über 20 Minuten. Es geht immer noch darum, welche Test-Cases noch umgesetzt werden müssen, um dieses Ticket abzuschließen. Da die Diskussion immer hitziger wird, ist klar, dass Anna und ihre Kollegen jetzt Unterstützung benötigen.
Wie kannst du einem Scrum Team in dieser Situation helfen?
Unerfahrene Agile Coaches greifen jetzt tief in ihren Methodenkasten. Mit einer komplizierten Moderationstechnik versuchen sie dem Team zu helfen, die verfahrene Situation aufzulösen. Nachdem sie das Vorgehen erklärt haben, winkt Anna bereits ab und sagt: „Damit verschwenden wir unsere Zeit. Eine Lösung muss jetzt her!“
Erfahrene Agile Coaches stellen sich in einer solchen Situation die Frage: „Wie kann ich die Zusammenarbeit vereinfachen und nicht weiter verkomplizieren?“
Sie greifen dann zu einfachen Methoden. Etwa räumen sie jedem Entwickler Zeit ein, den anderen seinen Standpunkt darzulegen. So einfach, wie es klingen mag – darin steckt die Kraft guter Begleitung: jeden einzubeziehen und an der Lösungsfindung mitwirken zu lassen.
Das ist es, was gute Facilitation im Kern ausmacht.
Es geht darum, Dinge für das Team zu vereinfachen. Wenn du das Fass ohne Boden von guter Facilitation aufmachen willst, dann empfehle ich dir das „Professional Scrum Facilitation Skills“-Training. Dort werden deine Facilitation-Fertigkeiten auf ein neues Level gebracht. So erleichterst du den Erfolg für dein Team.
Frage 3: Welchen Prozess kann ich im nächsten Monat vereinfachen?
Wie dir jeder Unternehmer bestätigt, sind die zwei wichtigsten Fragen für Unternehmen:
Was kann ich heute tun, um meine Kunden zu begeistern?
Was kann ich tun, um neue Kunden zu gewinnen?
Mit diesen beiden Fragen beginne und ende ich jeden Tag. Für mich ist es ein guter Tag, wenn ich mindestens eine dieser Fragen zum Ende des Tages konkret beantworten kann.
Seit einigen Monaten stelle ich mir am Ende des Monats die zusätzliche Frage:
Welchen Prozess kann ich vereinfachen?
Diese Frage hat mir letzten Monat geholfen, die Onboarding-E-Mails für meine Trainings erheblich zu vereinfachen. Statt unterschiedlicher E-Mails schicke ich jetzt für jedes Training die Gleiche. Dies reduziert den Wartungsaufwand um 90 %.
Seit zwei Jahren habe ich einen Newsletter mit etwa 250 Abonnenten. Dort teile ich regelmäßig Updates zu Artikeln, Workshops und Meet-ups. Und seit Oktober schreibe ich auch einen LinkedIn-Newsletter mit 1000 Lesern. Dort erscheint jeden Montag ein Artikel rund um Scrum. Leider ist es aber so, dass zwei Newsletter auch doppelt so viel Arbeit bedeuten. Wie kann ich diesen Prozess vereinfachen? Diese Frage stelle ich mir diesen Monat.
Wenn wir Prozesse nicht automatisieren können, sollten wir nach Wegen suchen, sie zu vereinfachen. Denn unser wichtigstes Kapital im digitalen Zeitalter ist unsere Zeit!
Frage 4: Welche Tools sind überflüssig?
Was glaubst du? Welche Frage wird mir am häufigsten gestellt, wenn ich erzähle, dass ich online Scrum-Trainings gebe?
Wenn dies deine Vermutung ist, dann hast du richtig geraten: „Welches Tool verwendest du dafür?“
Seit Anbeginn der Zeit lieben Menschen ihre Werkzeuge, das scheint sich in einer zunehmend digitalen Welt noch zu verstärken. Ich bin das beste Beispiel dafür. Es gibt wohl kein Online-Conference-Tool, digitales Whiteboard oder Collaboration-Tool, was ich nicht schon ausprobiert habe. Leider ist es aber so, dass die Qualität eines Trainings nicht an der Anzahl der verwendeten Tools gemessen wird.
Ganz im Gegenteil.
Letztes Jahr gab ich ein „Professional Scrum Master“-Training für einen Kunden. Ich war perfekt vorbereitet.
Zoom für die Videokonferenz
eine riesige Trainingslandschaft in Miro
einen Slack-Raum für zusätzliche Diskussionen
Als dann am Montagmorgen der erste Teilnehmer den Trainingsraum betrat und mir sagte, dass das digitale Whiteboard nicht lädt, war das der Anfang einer Katastrophe. Eine instabile Internetverbindung in Indien, nur ein 14-Zoll-Notebook-Bildschirm im Homeoffice und ein offenes Fenster direkt an der Hauptstraße, um vor Hitze in der Wohnung nicht umzukommen, ließ die Katastrophe ihren Lauf nehmen.
Seither konzentriere ich mich bei Trainings auf das Wesentliche: den Inhalt! Und halte die Tools so einfach wie nur irgendwie möglich. Ein Monitor, Zoom, wenige Folien in Google Jamboard und Papier und Stift. Zu meiner Überraschung bekomme ich jeden Monat mehr und mehr 5-Sterne-Bewertungen.
Wenn du dich als Agilist von der Frage leiten lässt …
Was kann ich heute tun, um die Dinge zu vereinfachen?
… dann dringst du zum Kern von Agilität vor. Du erreichst das, was ich die „immer in Beta“-Phase nenne. Es ist nie einfach genug, du suchst immer neue Wege, Dinge noch einfacher zu gestalten. Für dein Team, für deine Kunden, für dich selbst. Es ist eine endlose Reise und du befindest dich jeden Tag aufs Neue am Anfang. Die Reise ist nie zu Ende und das Ergebnis nie perfekt. Es ist wie bei Amazon: Selbst mit 600 000 Mitarbeitern und einer Marktkapitalisierung von 1,5 Billionen Dollar arbeitet Amazon immer noch nach dem Motto:
„Heute ist Tag 1!“