Muss ein Facilitator neutral sein?

Die meisten bejahen diese Frage.

Sie sehen den Facilitator für den Prozess und die Teilnehmer im Workshop für den Inhalt verantwortlich. Mehr noch: Sie sind überzeugt, dass der Facilitator den Inhalt nicht verstehen muss. Sie glauben, als Facilitator ist es am besten, wenn sie den Inhalt nicht verstehen, damit sie nicht in Versuchung kommen, sich an Diskussionen zu beteiligen.

Und vor allem aber machen Facilitatoren nie, nie, nie inhaltliche Vorschläge.

Aber was bedeutet neutral eigentlich?

Neutralität bedeutet, frei zu bleiben von Urteilen über gut oder schlecht, wahr oder falsch und korrekt oder fehlerhaft. Neutralität bedeutet im Kern objektiv zu bleiben. Also nicht durch Gefühle, Urteile oder Ansichten beeinflusst zu werden.

Aber seien wir mal ehrlich, diese Haltung ist für Scrum Master doch unmöglich.

Betrachten wir nur die „neutrale Aussage“:

„Die Velocity des Scrum Teams betrug diesen Sprint 20 Story Points.“

Eigentlich handelt es sich doch um eine mathematische Aussage.

Und Mathematik ist doch der Inbegriff von Objektivität. Aber trotzdem war ich, als ich vor einigen Jahren diese Aussage in einem Sprint Review machte, nicht frei von Gefühlen, persönlichen Urteilen und Ansichten. Denn wir hatten im letzten Sprint 45 Story Points erzielt. Deshalb glaube ich, dass ein Scrum Master niemals wirklich neutral sein kann. Er übernimmt eine Verantwortung im Scrum Team und ist somit für den Erfolg des Teams mitverantwortlich. Das bedeutet nicht, dass wir als Scrum Master nicht nach diesem Ideal streben sollten, neutral zu sein. Denn am Ende entscheidet häufig der Grad der Neutralität in einer hitzigen Diskussion zwischen Stakeholder und Scrum Team über den Erfolg des Teams.

Es ist die neutrale Haltung des Scrum Masters, die erst Entscheidungen fördert, die wirklich jeder mitträgt.

Über die letzten Jahre habe ich viele Dinge ausprobiert, um in Diskussionen eine möglichst neutrale Haltung einzunehmen. Ich habe sie für dich in fünf Tipps zusammengefasst. Die Anwendung der Tipps wird dir helfen, dein Team auch in hitzigen Diskussionen zu einer Entscheidung zu führen, die jeder mitträgt.

Tipp 1: Stelle weniger inhaltliche Fragen, dafür mehr Fragen zum Prozess

Werden wir gleich konkret:

Ob du als Facilitator den Inhalt verstehst oder nicht, ist belanglos, wenn du objektiv sein willst. Wichtig ist, dass du als Facilitator deine Aufgabe verstehst. Du musst ein Bewusstsein über die Art und Weise haben, wie das Team bei der Problemlösung voranschreitet. Dies ist der Prozess. Es geht nicht darum, Antworten auf die vorliegende Frage zu geben oder das Team subtil in  eine Richtung zu lenken. Das ist der Inhalt.

Du erreichst das, indem du weniger inhaltliche Fragen stellst und stattdessen Fragen zum Prozess:

„Ich stelle fest, dass wir schon seit fünfzehn Minuten über dasselbe Thema sprechen. Ist das hilfreich? Wenn nicht, was würde uns weiterbringen?“
„Es gibt im Moment drei verschiedene Themen in diesem Gespräch. Über welches Thema sollten wir als erstes sprechen?“

Mit solchen Fragen hilfst du dem Team bei der Lösung eines Problems voranzuschreiten und bleibst dabei objektiv.

Tipp 2: Ermutige die Teammitglieder auch gegensätzliche Meinungen zu äußern

Wie kannst du die Objektivität noch weiter fördern?

Objektivität entsteht durch gegensätzliche Ansichten. Lass sie im Workshop zu, mehr noch fördere sie! Wenn du dabei neutral bleiben willst, dann begehe nicht den Fehler, den unerfahrene Facilitatoren machen.

Sie versuchen gegensätzliche Ansichten zu fördern, indem sie diese Ansicht einbringen. Du erkennst es daran, dass sie ihre Sätze so beginnen:

„Objektiv betrachtet, ist es doch so …“
„Nichts für ungut, aber … “
„Ich möchte keine Partei ergreifen, aber …“

Da diese Sätze immer mit einem inhaltlichen Vorschlag enden, mischen sie sich damit unweigerlich in den Inhalt ein. Wenn du möglichst neutral bleiben willst, solltest du das vermeiden.

Ermutige lieber die restlichen Teammitglieder gegensätzliche Perspektiven zu äußern:

„Ist es möglich, dass die Alternative [zu dem, was du gerade gesagt hast] für manche Menschen wahr ist? Wie kann das sein?“

Werden gegensätzliche Ansichten geäußert, dann schätze diese:

„Danke, dass du deine Sichtweise mit uns teilst. Es ist immer schön zu sehen, wie viele verschiedene Perspektiven es zu einem Thema gibt.“

Förderst du als Facilitator bewusst gegensätzliche Ansichten, so kannst du inhaltlich neutral bleiben.

Tipp 3: Stelle das Team in den Mittelpunkt und nicht dich

Wie kannst du deine neutrale Haltung noch besser für die anderen sichtbar machen?

Du wirst als neutral wahrgenommen, wenn du auf inhaltliche Vorschläge verzichtest. Du kannst deine neutrale Haltung noch stärker kenntlich machen, indem du auf deine Meinung verzichtest, auch wenn sie nur zum Prozess ist. Biete stattdessen Beobachtungen an.

Hier zwei Beispiele, dann siehst du den Unterschied:

Statt „Ich denke, es wäre hilfreich, wenn …“ sage: „Was benötigt ihr, um weiterzumachen?“
Statt „Lasst uns weitermachen!“ verwende „Was fehlt euch noch?“ oder „Was braucht ihr noch, um den nächsten Punkt zu besprechen?“

Zusammengefasst: Vermeide Ich-Botschaften, wenn du als neutral wahrgenommen werden willst.

Tipp 4: Konzentriere dich auf die Zukunft und vermeide Rechtfertigungen

In technischen Studiengängen wird uns eingetrichtert, nach Gründen zu suchen.

Deshalb ist die erste Frage, die uns einfällt, die Frage nach dem Warum. „Warum kam es zu diesem Problem?“, „Was sind die möglichen Ursachen, dass dieses Problem auftrat?“ und „Was sind die Gründe für diese Verhalten?“. Wenn wir es mit Maschinen oder Programmen zu tun haben, ist diese Frage hilfreich. Hat eine Maschine ein Fehlverhalten, geht es darum, dieses abzustellen und deshalb müssen wir verstehen, was die Ursache dafür ist.

Die Sache ist nur:

Facilitation hat nichts mit Maschinen oder Programmen zu tun! Es geht um Menschen und soziale Systeme. Und deshalb führt die Frage nach dem „Warum“ schnell tief in das Problem hinein, um dort nach Gründen und möglichen Schuldigen zu suchen. Veronika und Ralph empfehlen deshalb die Frage nach dem „Warum“ aus unserem Sprachgebrauch zu streichen. Stattdessen sollten wir sie durch die Frage nach dem „Wozu“ ersetzen. Ich stimme ihnen zu, den die Frage nach dem „Wozu“ führt direkt in die gewünschte Zukunft. Sie hilft zu verstehen, indem wir nach dem Zweck suchen.

Da der Zweck frei von Urteilen und Schuldzuweisungen ist, hilft es dir, mit Fragen nach dem „Wozu“ neutral zu bleiben.

Tipp 5: Verbinde die Gedanken und schließe sie nicht aus

Kennst du die magische Kraft des Wortes „aber“?

Als Facilitator ist es deine Aufgabe, dem Team zu helfen, ein gemeinsames Verständnis herzustellen. Das falsche Verwenden des Wortes „aber“ kann dich dabei behindern.

Lies bitte diesen Satz:

„Tolle Idee, aber es gibt einen Bereich, den du beim nächsten Mal bedenken solltest.“

Was ist dir aufgefallen? Alles, was vor dem kleinen Wort „aber“ gesagt wurde, wird von unserem Gehirn gelöscht. Und alles, was nach dem Wort „aber“ gesagt wird, wird verstärkt. Vor allem, wenn das, was auf das „aber“ folgt, das genaue Gegenteil von dem ist, was dem „aber“ vorausging. Verwendest du das Wort „aber“, fällst du ein Urteil, dass etwas weniger wichtig ist. Und somit wirst nicht mehr als neutral wahrgenommen.

Deshalb lautet mein Tipp, das Wort „aber“ durch „und“ in deinem Sprachgebrauch zu ersetzen.

Bonus Tipp: Sage weniger, dann kannst du weniger beeinflussen

Zum Schluss noch einen zusätzlichen Tipp:

In Scrum Events haben Scrum Master häufig ungewollt eine autoritäre Position. Da Scrum Master viel Erfahrung in der Anwendung von Scrum haben, erwarten die restlichen Mitglieder des Teams häufig Unterstützung in den Scrum Events: „Bitte sage uns doch, wie das Sprint-Ziel lauten sollte?“ oder „Welche Verbesserung sollten wir umsetzen?“ Möchtest du als Scrum Master möglichst neutral bleiben, dann solltest du dem Drang widerstehen, sofort eine Antwort zu geben.

Ein Kniff, damit es dir gelingt:

Biete dem Team an, dass du deine Meinung äußerst, aber nur, wenn vor dir noch drei weitere Teammitglieder eine Idee äußern. Mit diesem Kniff gelingt es dir, dass deine Meinung nicht isoliert im Raum steht und fälschlich als die einzig richtige interpretiert wird.

Wenn die Tipps hilfreich waren, dann gib mir mit einem „Like“ Rückmeldung.

 

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